Erläuterung: Gibt es in der Schweiz keine politische Opposition?

Erläuterung: Gibt es in der Schweiz keine politische Opposition?

Bei den Black Lives Matter-Protesten in Lausanne im Juni 2020. Keystone / Jean-Christophe Bout

In der Schweiz sind die großen Parteien immer Teil der Regierung. Wer überwacht also die Minister? Die Politikwissenschaftlerin Silja Hauserman erklärt, wie die Opposition funktioniert.

Dieser Inhalt wurde am 08. Dezember 2023 – 09:00 Uhr veröffentlicht


Am 13. Dezember wählt das Schweizer Parlament einen neuen Minister für das siebenköpfige Exekutivorgan, den Bundesrat. Es wird mit ziemlicher Sicherheit ein Mann sein. Seine Partei ist sich noch sicherer. Denn seit über 60 Jahren stellen die vier wichtigsten Parteien der Schweiz nahezu ununterbrochen die Regierung. Sie arbeiten als Minister trotz sehr unterschiedlicher Weltanschauungen und Meinungen zusammen.

Vier Fünftel der Parlamentarier im Repräsentantenhaus gehören einer Regierungspartei an. Daher ist der Widerstand in der Schweiz im herkömmlichen Sinne minimal. Die größte Partei im Parlament ohne Regierungssitz ist derzeit die Grüne Partei, die etwa 10 % der Wählerschaft vertritt. Aus historischer Sicht und für Schweizer Verhältnisse ist die Opposition mittlerweile sehr groß.

Ist die Regierung stark?

Natürlich gibt es ausserparlamentarische Koalitionen, die genügend Unterstützer für die Durchführung von Referenden aufbringen können (wie etwa in den letzten Jahren Gegner von Pandemieschutzmassnahmen), aber auf den ersten Blick scheint die Schweiz eine der dominantesten Regierungen aller Demokratien zu haben.

„Nein, die Regierung in der Schweiz ist nicht dominant“, behauptet Celia Hauserman, Professorin für Schweizer Politik an der Universität Zürich. Dies liegt daran, dass die Schweizer Regierung keine Möglichkeit hat, die Zustimmung des Parlaments einzuholen. „Sie kann dem Parlament nicht mit Neuwahlen drohen, wie es ein normaler Premierminister tun würde.“ Deshalb muss sich die Regierung vor dem Parlament auf ihre Überzeugungskraft verlassen.

Darüber hinaus kann weniger Druck auf die Parlamentarier ausgeübt werden, wenn die Regierung ihre Entscheidungen und Vorschläge gemeinsam trifft. Haussermann erklärt, dass die Regierung als „kollektives Gremium“ agiere und ihre Vorschläge daher „nicht eindeutig einer einzelnen Partei zugeordnet werden können“.

Celia Hauserman ist seit 2012 Professorin für Schweizer Politik und vergleichende politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Institut für Politik/UZH

An der wöchentlichen Regierungssitzung beschließen die sieben Mitglieder des Bundesrates, einen Kompromiss zu erzielen, der von mindestens vier Mitgliedern getragen wird. In den meisten Fällen vertreten die Regierungsmitglieder diesen Konsens unwidersprochen nach außen. Daher fühlen sich Parlamentarier der Regierungsparteien nicht unbedingt an einen Regierungsentwurf gebunden, selbst wenn dieser in die Zuständigkeit eines Ministers ihrer Partei fällt.

Fordern Sie die Regierung durch direkte Demokratie heraus

Kein anderes Land der Welt erhält so viele Stimmen wie die Schweiz. Schweizer Bürger können regelmässig ihre Meinung oder einfach ihre Unzufriedenheit äußern. Sie können vom Parlament oder der Regierung verabschiedete Gesetze per Referendum anfechten. Sie können auf Volksinitiative Änderungen der Verfassung vorschlagen. Diese Mechanismen „erhöhen den Druck für eine breite Regelung“, sagt Hausserman.

Gleichzeitig fügt sie hinzu: „Jedes Referendum ist letztlich Ausdruck eines gescheiterten Konsensbildungsprozesses.“

So startete die linke Sozialdemokratische Partei im vergangenen Jahr ein Referendum gegen die Rentenreformpläne eines ihrer Bundesberater, Innenminister Alain Berset. Das ist in der Schweiz völlig normal: Die Partei ist gegen den Gesetzentwurf, obwohl ihr Minister das öffentliche Gesicht des Gesetzesentwurfs ist.

„Das Gleiche hat die Schweizerische Volkspartei in Sachen Klimapolitik getan, als sie sich gegen ihren Bundeskanzler gestellt hat“, sagte Hausermann und erklärte, dass die Sozialdemokraten die am weitesten links stehende Regierungspartei und die Volkspartei die am weitesten links stehende Regierungspartei seien rechte Partei. Die Regierungspartei, die „am entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums steht, […] Sie fühlen sich nicht an Regierungsvorlagen gebunden und können ohne negative Folgen davon abweichen.

In der Schweiz kommt es vor allem zwischen den Regierungsparteien zu einer politischen Polarisierung – eine Polarisierung, die sich, wie Hausserman betont, „selbstverständlich auch auf der diskursiven Ebene manifestiert“. Die stärkste Form dieser rhetorischen Polarisierung zeigte sich während der Pandemie, als Vertreter der Volkspartei, zu der zwei der sieben Regierungsmitglieder gehören, den Schweizer Gesundheitsminister als „Diktator“ bezeichneten. Auch der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei übt regelmäßig Kritik an der Regierung.

Somit besteht in der Schweiz eine gewisse Synchronisation zwischen Regierungsverantwortung und Oppositionsverhalten. Dies spiegelt sich deutlich in den regelmäßigen Volksabstimmungen wider. Mit jeder Abstimmung bilden die Parteien neue Bündnisse.

Hauserman verweist auf den Berner Politikwissenschaftler Adrian Vater, der gezeigt hat, wie sich die Regierungsparteien bei Einzelabstimmungen immer mehr auseinandersetzen. Während Ende der 1970er-Jahre die vier Bundesratsparteien in fast 80 % der Abstimmungen die gleiche Meinung vertraten, liegt diese Zahl heute nahe bei Null.

„Aufgrund dieser Polarisierung“ gebe es heute „kaum Parlamentsvorlagen“, in denen die Sozialdemokratische Partei oder die Volkspartei nicht von der Position der Regierung abweichen. „Tatsächlich bilden SPD und SVP die Hauptoppositionskräfte in der stark gespaltenen Parteienszene der Schweiz“, schlussfolgert Hauserman.

Überraschenderweise stellen die Regierungsparteien einen wichtigen Teil der Opposition in der Schweiz.

Herausgegeben von David Ogster. Aus dem Deutschen übersetzt von Julia Bassam.

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